Jetzt Ist Schluss Mit Brav

Mariah Carey lebte lange im goldenen Käfig ihrer Ehe. Dann eine neue CD, ein neuer Film. Karriere bis zur Erschöpfung. Ein Leben am Limit. Doch in InStyle zeigt sie sich entspannt und sexy wie nie.

InStyle Magazine
Magazine Scans
InStyle (DE) September 2001. Text by Ann Thorer.

Eine Suite im feinen Berliner Hotel “Ritz-Carlton,” Die schwerren Vorhänge sind zugezogen, auf dem Sofatisch stapeln sich Kleenex-Packungen, Taschentücher, Hustenbonbons. Eine Kerze verströmt ein Duftgemisch aus Vanille und Fichtennadeln. Ein edles Krankenlager. Der Patient liegt aber nicht dick eingemummelt im Bett, sondern sitzt in knappen Jeans-Hotpants, dünnem Unterhemdchen und mit zehn Zentimeter hohen goldenen Stilettos auf dem Sofa. Mariah Carey ist erkältet. Allerdings sind Divas anders erkältet als Normalsterbliche: Bis auf die leicht gerötete Nase ist die Sängerin trotzdem so perfekt gestylt wie ein Supermodel kurz vor dem Covershooting. “Hallo, schön dass Sie da sind,” sagt sie mit leicht heiserer Stimme, schüttelt kurz meine Hand, um sie dann ganz schnell wieder auf das dicke Kissen auf ihrem Bauch zu legen, das sie an sich drückt wie eine Wärmflasche. Dass Mariahs Immunsystem im Moment labil ist, ist kein Wunder: 2001 ist für die 31-jährige Sängerin mit der Vieroktavenstimme ein anstrengendes Jahr: Sie gab ihr Schauspieldebüt im 80er-Jahre-Musikfilm Glitter — Glanz eines Stars, sie hat ihren zweiten Film Wise Girls an der Seite von Oscar-Preisträgerin Mira Sorvino gerade abgedreht und sie veröffentlicht dazu noch ein neues Album.

Ein echter Neuanfang, denn Mariah Carey ist zum ersten Mal in ihrem Leben frei — beruflich wie privat. Seit sie vor zwölf Jahren auf einer Party vom zwanzig Jahre älteren Sony-Boss Tommy Mottola entdeckt wurde, der sie erst unter Vertrag nahm und dann heiratete, lebte sie im goldenen Käfig. Ihr Mann bestimmte, was sie sang, trug, sagte: “Damals durfte niemand wissen, dass ich Beine habe oder eine gute Figur. Die Fans sollten nur sehen: Sie hat einen Mund und mit dem singt sie,” erinnert sie sich. Dankbar für ihre große Chance fügte sich die zwanzigjährige Mariah Carey den Vorschriften ihrer Plattenfirma: “Irgendwann hatte ich keine Lust mehr, immer gleich auszusehen. Doch niemand wollte eine Veränderung akzeptieren. Als wenn man nicht gleichzeitig gut aussehen und gut singen könnte.”

Die Folge: Es kriselte in der Ehe. 1997 dann die Scheidung und mit ihr Mariahs Imagewandel. Aus der braven Balladensängerin wurde eine sexy R&B-Künstlerin. “Ich habe keinerlei Kontakt mehr zu ihm,” ist das Einzige, was sie zu ihrem Entdecker heute sagen möchte. Dieses Jahr hat sie sich nun völlig aus den Fängen ihres mächtigen Exmanns befreit: Sie verließ dessen Plattenfirma Sony, schloss einen Rekordvertrag über 90 Millionen Dollar mit Virgin. Und auch privat ist sie endlich glücklich — seit zwei Jahren ist sie mit dem 31-jährigen mexikanischen Popstar Luis Miguel glücklich.

Vorbei die Tage, in denen Mariah nur hochgeschlossene Kleider trug. Ihre Schränke sind voll mit knappen Shorts und sexy Kleidern. Auf ihren Stilwechsel vom Chormädchen zur Sexbombe angesprochen, reagiert sie leicht gereizt: “Nur, weil ich mich jetzt sehr sexy kleide, verändere ich doch nicht meine Persönlichkeit. Mit Hotpants oder bauchfreien Shirts werde ich doch nicht promisk. Ich passe sehr auf mich auf, auch in sexueller Hinsicht." Was heißt das genau? “Ich habe erst mit sehr wenigen Männern geschlafen,” antwortet die Diva ganz direkt und nicht ohne Stolz. Und packt ein neues Halsbonbon aus.

Themenwechsel: Was trägt Miss Carey, wenn sie mal eben in den Supermarkt geht? “Ich gehe nicht selbst zum Supermarkt. Keine Zeit. Ich würde aber gern. Das wäre bestimmt lustig.” Sagt sie, kichert und drapiert ihre gazellenartigen Beine elegant auf dem Sofa. Hat sie eigentlich gar keine Probleme mit Cellulitis? Sie guckt etwas verdutzt: “Keine Ahnung.” Dann wirft sie sich plötzlich auf den Rücken und streckt ihre Beine wie ein Käfer in die Luft. “Hab ich,” fragt sie, ”siehst du etwas?” Natürlich ist nichts zu sehen. “Na ja,” meint sie und setzt sich wieder aufrecht hin, “wenn ich die Haut an meinen Beinen zusammendrücke, kann man schon Cellulitis erkennen.” Macht's — aber selbst dann ist nichts zu sehen. “Ich bin genetisch im Vorteil,” erklärt sie fast entschuldigend. “Mein Vater ist Venezolaner, meine Mutter Irin. Das ist, was die Haut angeht, die ideale Mischung. Aber ehrlich gesagt, sind die Shorts, die ich trage, nicht gerade vorteilhaft für meine Beine.”

Mariah Carey stammt aus ärmlichen Verhältnissen. Wenn sie heute glitzernde Roben trägt und in sexy Outfits durch ihre teuren Videoclips tanzt, ist das für sie die späte Erfüllung ihrer Kindheitsträume: “Reich sein,” wollte sie immer, “und hübsch. Ich fand mich als Teenager immer unglaublich hässlich. Erst die Musik hat mir Selbstvertrauen gegeben.” Vielleicht hat sie deshalb die Produzenten dazu gedrängt, ihr Kinodebüt Glitter in den 80er-Jahren spielen zu lassen. Eine Dekade, die Mariah Carey nie richtig miterleben konnte: “Meine Familie war zu arm. Als Teenager kam mir das alles weit entfernt und glamourös vor: die Musikclips auf MTV, die Werbung, die schrägen Kleider. Ich sah staunend all die wunderbaren Errungenschaften der 80er-Jahre, die ich nie besitzen konnte. Das Staunen ist bis heute geblieben,” gibt die Sängerin zu.

Der Film Glitter — Glanz eines Stars, der im November in die deutschen Kinos kommt, handelt vom Werdegang einer jungen Sängerin in New York. Eine Paraderolle für Mariah Carey. Wenn sie von ihren ersten Schauspielerfahrungen spricht, bekommt sie glänzende Augen: “Schauspielern ist für mich eine weitere Form der kreativen Entladung. Als ich als Kind unglücklich war, hat die Musik mein Leben gerettet. Jetzt kann ich der Realität meines Lebens entfliehen, indem ich für gewisse Zeit in eine andere Haut schlüpfe.”

Die Realität ihres Lebens, das sind nicht nur Plattenmillionen und weltweiter Ruhm. Das sind auch wochenlange Trennungen von ihrem Freund und notorischer Zeitmangel. Ein hoher Preis, den Mariah Carey für ihren Erfolg zahlt: “Ich habe manchmal nicht mal Zeit zum Essen. Unter Stress kriege ich auch keinen Bissen runter,” sagt sie und zeigt auf zwei Gläser auf dem Tisch. “Im einen ist Saft, im anderen mein kleiner Protein-drink. Das ist mein Essen für heute.” Wie aufs Stichwort betritt eine Assistentin den Raum, in der Hand eine neue Packung Ricola Schweizer Kräuterzucker. “Danke, mein Schatz,” flötet die kranke Diva und steckt sich ein neues Bonbon in den Mund. Auspacken muss sie es erst gar nicht, das hat die Assistentin schon getan. “Sie passt auf mich auf,” sagt Mariah. “Manchmal stellt sie sich in die Hotelküche und kocht ein richtiges Menü für mich. Das esse ich dann auch.”

Wenn die Zeit reicht. Denn meist hetzt die Sängerin von einer Stadt zur nächsten. Ihre Familie und Freunde hat sie schon lange nicht mehr gesehen. Besonders vermisst sie ihre Tiere: drei Hunde und eine Katze. Star der tierischen Carey-Familie ist Kater Willy D, benannt nach dem Wal im Kinohit Free Willy, “weil er schwimmt wie der Wal,” erzählt Mariah. “Wenn ich mir ein Bad einlasse, liegt der Kater auch schon drin.” Auf mein ungläubiges Gesicht hin, muss sie lachen: “Ja, seltsam, nicht? Aber alle meine Tiere sind seltsam. Mein Terrier Jack ist verückt nach dem Meer und taucht minutenlang.”

Apropos Wasser: Mariah hat eine klitzekleine Lücke in ihrem Terminplan gefunden und will mit ihrem Privatjet für einen Tag nach Sardinien fliegen. Wie ihr Kater ist auch sie eine fanatische Schwimmerin: “Im Wasser kriege ich meinen Kopf frei.” Zum Abschied schüttelt sie mir sanft die Hand. Beim Hinausgehen höre ich sie niesen. Ganz fein. Wie sich das für eine Diva gehört.