Wenn man einen Menschen näher betrachtet, dann wird selbst die ebenmäßigste Haut zur Landschaft. Und wenn man ganz dicht dran ist, erkennt man einzelne Poren. Wenn man Mariah Carey näher betrachtet, scheint sie ein wenig zu verschwimmen. Je dichter man rangeht, um so glatter wird die Haut. Poren? Nicht eine einzige. Die Oberflächenstruktur ist perfekt, zart schimmernd. Wirkt wahnsinnig natürlich. Aber auch befremdlich. Ist die echt? Nun, sie spricht, sie bewegt sich, sie trinkt Wein, sehr zügig und mit Genuss. Man ahnt ja nicht, was heutzutage technisch möglich ist. Vielleicht ist Mariah Carey eine 3-D-Computeranimation? Einiges spricht dafür.
Zunächst wäre da neben der wirklich gelungenen Oberfläche der erstaunliche Stimmumfang. Der bewegt sich über zahlreiche Oktaven, was jemandem, der sich mit Oktaven nicht auskennt, gar nichts sagt. Interessant zu sehen ist allerdings, dass junge Frauen beim Talentwettbewerb immer darauf bestehen, Mariah-Carey-Songs vorzusingen, um regelmäßig an den hohen Tönen zu scheitern. Frau Carey hat etwas, was schwer nachzuahmen ist. Gemeinhin wird das mit “Talent” umschrieben. Dieses Talent ist bei ihr in Zahlen zu messen: über 140 Millionen verkaufte Platten. In den 90ern jedes Jahr ein Nummer-eins-Hit in den USA. Rangiert in der “Wer-hat-die-meisten-Nummer-eins-Singles?” Statistik direkt hinter den Beatles und Elvis Presley. Besser geht es kaum. Oder?
Neuerdings gibt es von Mariah Carey eine upgedatete Version, MC 2.0 sozusagen: Die kann jetzt auch schauspielern. Glitter - Glanz eines Stars (Start: 15. November) heißt der erste Film, in dem sie zu sehen ist, und sie wird nicht müde zu betonen: “Die Geschichte in dem Film ist nicht mein Leben, okay?” Sie sagt das so deutlich, weil die Parallelen — sollte man sagen: ihrer Legende? — auf der Hand liegen. Glitter spielt Anfang der 80er in New Yorker Clubs und Mariah ein Mädchen mit schwieriger Kindheit, das als Sängerin Karriere macht. Den dazugehörigen Soundtrack hat sie nicht nur besungen, sondern auch gleich selbst produziert. Unter Mithilfe von la-Rappern wie Busta Rhymes hat MC neue Stücke aufgenommen — und als Bonus-Bonbon auch den Clubklassiker “Last Night A DJ Saved My Life.” Ab 20. August wartet das Album in den Plattenläden auf sein Millionenpublikum.
Derzeit steckt sie mitten in den Dreharbeiten zu einem neuen Film, Wise Girls, “mit Mira Sorvino, die schon mal einen Oscar gewonnen hat.” Darin mimt MC eine knallharte Drogendealerin. Nebenbei muss noch das Video zur neuen Single “Loverboy” der exzentrische Fotograf David LaChapelle führt Regie — fertig geschnitten werden. Das Mariah-Programm läuft auf Hochtouren, leistungsstärker und taffer als Lara Croft. Allerdings, und das ist wirklicher Fortschritt: aktiv, nicht interaktiv. Sie bestimmt, entscheidet, dirigiert im Sekundentakt. Lässt sich nicht reinreden, nimmt höchstens Ratschläge entgegen. Gibt es doch so etwas wie künstliche Intelligenz?
Ein weiteres Indiz dafür, dass sie ein geballter Datenhaufen, eine Anzahl bunter Pixel ist: Freizeit? Unbekannter Modus! Sie springt von Job zu Job, leichtfüßig, elfengleich, ausgeruht. Angetrieben von einer gar nicht geheimen Energiequelle: “Ich kann noch nicht mal Auto fahren, wenn keine Musik läuft.” Egal, wie müde sie ist, sie hat diesen wahnsinnig wachen Blick. Für ihre Augen waren das Vorbild sicher japanische Mangas, aus denen einen die Mädchen immer ganz kullerrund anblinzeln.
Comicähnlich auch die Kleidung: “Selbst im Winter trage ich so was,” behauptet sie und zeigt auf ihr hauchzartes Trägertop und die offenen High Heels, exaltierte Holzlatschen mit Zehn-plus-x-Zentimeter-Absatz, in denen sie laufen kann, als wären es Siebenmeilenstiefel. “Ich habe kein Gefühl für Jahreszeiten.” Kein Kälteempfinden! Ein deutlicher Hinweis! Sie kann nicht echt sein! Aber wunderschön.
“Mir ist es egal, welchen Tag wir haben, wie viel Uhr, welches Jahr. Das bedeutet mir nichts. Ich fließe einfach durch mein Leben — ich fühle mich immer noch, als wäre ich in der achten Klasse.” Kann ein menschliches Wesen dem unbarmherzigen Verrinnen der Zeit so gleichmütig gegenüberstehen? Wohl kaum. Beneidenswert, diese übernatürliche Lässigkeit.
Um die virtuelle Wahrheit zu verheimlichen, sind ständig etliche hoch spezialisierte Fachleute um sie herum, die sich um alles kümmern — von der (vorgetäuschten?) Nahrungsaufnahme (“Ich vergesse immer zu essen”) bis zur kompletten Biografie.
Und das Projekt MC war von Anfang an Chefsache. 1993 heiratet Mariah Sony-Boss Tony Mottola, von dem man gerne sagt, er hätte sie “gemacht.” Ein perfektes Alibi? Eine bessere Tarnung als eine solche Ehe hätten sich auch Microsoft und die CIA zusammen nicht ausdenken können. Nach der Scheidung 1997 dann eine kleine Nachlässigkeit, ein Loch in der Matrix: Mariah Carey zieht aus dem gemeinsamen Haus aus und hat plötzlich keine Bleibe mehr. “Ich bin obdachlos,” bekennt sie freimütig, aber das passt nicht ins ansonsten so ausgefeilte Popstar-Konzept. Eine neue Wohnung muss her, und dabei treten ungeahnte Probleme auf. Sie versucht, das Apartment von Barbra Streisand zu kaufen. “Miss Streisand und ich, wir hatten unsere eigene Abmachung. Ich wollte schon immer ein Penthouse haben. Und dieses hatte so gute vibes, schließlich hat sie 30 Jahre dort gelebt. Ich hätte auch gar nicht viel verändern müssen, weil sie einen wunderbaren Geschmack hat.” Aber das Eigentümer-Komitee des Hauses war dagegen. “Die dachten, ich sei eine Skandal-Oueen und würde Partys geben, Rapper zu Besuch haben und Leute mit Waffen. Die vom Komitee, die sind 60 oder noch älter. Die sahen mich und dachten nur: Wie kann die sich so ein Apartment leisten?” Aber das wäre nicht das Problem gewesen. Eher die Lärmbelästigung. “Die Wahrheit ist: Ich werde laut Musik hören!” Deshalb hat sie sich jetzt in Downtown New York eine zweistöckige Wohnung ausbauen lassen. “Endlich habe ich wieder ein Zuhause! Aber ich habe dort erst sechs Nächte geschlafen.” Um den Schein zu wahren?
Die Version MC 2.0 hat nicht nur eine neue Wohnung, sondern auch eine neue Plattenfirma. Virgin Records hat 25 Millionen Dollar gezahlt, um sie unter Vertrag nehmen zu dürfen. Wenn man sie sich so anschaut, wie sie sich sexy auf dem Sessel räkelt, im nächsten Moment aufspringt (sehr gute Bewegungsanimation!), eine Weinflasche entkorkt (praktisches Extra-Tool!) und dabei hintergründig scherzt (Humor als angenehme Zusatzfunktion!): “Ich bin sehr gut im Weinflaschenöffnen. Es hilft mir, meinen ärger und meine Frustration auszudrücken,” denkt man, dass sie jeden Cent davon wert ist. Sie ist einfach so gut gelungen!
So detailgetreu! Allein dieses präzise Erinnerungsvermögen. Zurzeit genau auf den 80er-Jahre-Hintergrund des Films programmiert. Sie kann Der Kommissar von Falco summen und auch Nenas 99 Luftballons. Sie weiß noch genau, wie sie sich in den 80ern in viel zu enge Designerjeans gezwängt hat: “Ich habe mich rückwärts aufs Bett geworfen und dann mit aller Kraft am Reißverschluss gezogen. Die saßen vor allem am Hintern sehr knackig. Das war gut! Allerdings für eine Elfjährige ziemlich unangemessen.”
Einzig echtes optisches Problem der ansonsten makellosen Benutzeroberfläche waren immer die Haare. Aber das ist endlich gelöst: Glatt und platinblond schimmert es bei MC oben. Das war nicht immer so: “Ich wollte sie mal aufhellen, habe mir also im Laden Farbe gekauft und die einfach raufgeschmiert. Als ich meine Haare trocknete, bekamen sie plötzlich dieselbe Farbe wie der Föhn: Orange!” Auch in den frühen Videos ist die Frisur noch eine deutliche Schwachstelle. MC trug eine üppige Löwenmähne, sah zeitweise wie eine Sandra-Replik aus. Aber wer kupfert schon bei deutschen Popstars ab?
Mariah Carey ist ausgesprochen international angelegt: Im Gesicht verschmelzen diverse Hautteints und Herkünfte (lateinamerikanisch, afroamerikanisch und europäisch) zu einem harmonischen Gleichklang; sie ist gewissermaßen nicht mehr eindeutig zuzuordnen. Jeder kann sich mit ihr identifizieren — ein geniales Antirassismusprogramm, weltweit erfolgreich.
So funktioniert MC 2.0, springt unentwegt hin und her in ihrem so genannten Leben, “von Modus zu Modus,” wie sie sagt. Diese technische Formulierung — und das klingt für menschliche Ohren etwas befremdlich — verwendet sie auch, wenn sie über Privates spricht. Zum Beispiel, wenn sie eine mögliche Trennung von ihrem Freund Luis Miguel (einem südamerikanischen Su-erstar) andeutet: “Ich bin nicht mehr in diesem Modus,” verkündet sie dann einfach.
Manchmal jedoch klingt sie beinahe so todtraurig wie Marvin, der depressive Roboter aus Per Anhalter durch die Galaxis: “Man sieht mich vielleicht in sexy Outfits, aber da bin ich mehr wie eine Sechsjährige, die in Mutters Schrank gegriffen und sich verkleidet hat. Das bin nicht wirklich ich. Ich tue das und flirte; und dann: Bye bye! Ich schütze mich selbst. Ich bin nicht promiskuitiv. Ich schlafe nicht herum. Aber die Leute verstehen das nicht. Denn alles, was sie sehen, ist das Image und dann nehmen sie an: Die tut doch — was auch immer. Ich habe das Gefühl, dass weder ein Mann noch eine Frau mich bislang völlig verstanden hat.”
Trotzdem macht sie unbeirrt weiter. Man ahnt ja nicht, wozu die Technik heute imstande ist. Zu stoppen ist der Fortschritt nicht.
“Niemand hält mir eine Pistole an den Kopf, damit ich das mache. Nun, früher schon. Aber jetzt nicht mehr,” sagt Mariah Carey.