Tief Luft holen! Schreien, damit einen jeder hört. Nein, besser noch singen, so stimmgewaltig, damit jeder vor Ehrfurcht vergeht. Die Stimme dehnen, bis sie über sechs Oktaven reicht. Dann kann mir nichts mehr passieren in dieser widrigen Welt, muss sich Mariah Carey schon gedacht haben, als sie noch sehr klein war. Tief Luft holen und die Dämonen eines viertklassigen Schicksals anblaffen: Zum Teufel mit den schäbigen, ständig wechselnden Unterkünften in Long Islands Vororten, mit dem notorischen Geldmangel der Mutter, mit dem Ruch, die falsche Hautfarbe zu haben.
Ähnlich wie ihre zehn Jahre ältere Schwester hätte Mariah Carey eine beinah schon vorprogrammierte Trash-Vita absolvieren können: Alisson Carey rutschte ins Drogen- und Prostituiertenmilieu ab. Die US-Presse mutmaßt, sie habe sich mit Aids infiziert. Mariah aber wollte den Klassenkampf, trotzte — angestiftet von Mutters Courage — einem Los, das zu billig zu haben war, und sehnte sich nach dem makellosen Firnis von Macht und Ruhm. Als der Vater — nach der Scheidung — zu einem Familienessen erschien, fing die vierjährige Mariah an, lauthals zu trällern. Der Vater verbot ihr, am Tisch zu singen, am Tisch zu singen — da lief das Mädchen ins Wohnzimmer, stieg dort auf den Tisch und sang weiter. Tief Luft holen und sich nie kleinkriegen lassen!
Heute ist die 29-Jährige der Superstar unter den Rhythm-&-Blues-Vokalistinnen. 100 Millionen Platten hat sie bis heute verkauft. Nächste Woche kommt ihr neuntes Album mit dem Titel Rainbow auf den Markt - allein diese Tatsache bringt das Blut der Entertainment-Welt schon vorab so in Wallung, als würde sich die junge Diva als neue Geliebte von Sexmaniac Mick Jagger outen.
Es scheint, mit der Manah-Mania ist es auch nach einer Dekade noch lange nicht vorbei: “Much, much more Mariah,” titelte süffig ein amerikanisches Magazin. Die erste Single-Auskoppelung “Heartbreaker” schoss in Kürze auf Platz der amerikanischen Charts. Dass der raplastige Song nur nach einer recycelten HipHop-Soul-Flickschusterei klingt, scheint die Fans der Königin des “Nutras-Sweet-Soul,” wie das Time Magazine vor Jahren rüffelte, nicht weiter zu stören. Tief Luft holen muss sie jetzt nicht mehr.
Mit einer Stimme, die “nur zweimal Vierteljahrhundert” vorkommt, wie die FAZ einst lobte. Mariah Carey tatsächlich den kitschigen Traum, den Millionen anderer Mädchen immer wieder erfolglos träumen, wahr gemacht. Dennoch, man ahnt, der arrivierte Star muss ganz schön nach Luft schnappen. Der schöne Schein muss trügen, denn das Mädchen geht wahnsinnig unter Druck. Stets Kunden übermüdete Augen von durcharbeiteten Nächten. Ihren Interviewpartnem präsentier sich die Sängerin nach der Studioarbeit bis in die Morgenstunden; ihre Antworten gibt sie vorzugsweise im Liegen. Promotion-Leute überlegen oft, ob sie nicht in der Presse-Suite rechtzeitig das Bett verschwinden lassen sollten.
Als sie jüngst anlässlich ihres neuen Albums zu einer Pressetour in Hamburg eintraf, schmiss sie den Terminplan über den Haufen und ließ sich für einen neuen Single-Remix ein Tonstudio anmieten. Klar hat sie die Nacht durchgemacht. Natürlich konnte sie sich erst um fünf Uhr nachmittags hin-legen. Die Gespräche wurden verschoben bis irgendwann in die Nacht, und Mariah war unendlich müde. Seht her, diese Frau ist eine Schwerstarbeiterin.
“Ich bin ein lächerlicher, obsessiver Workaholic,” mokiert sich die Musikerin über sich selbst. Sie seufzt. Dann lächelt sie. Es war natürlich ein Scherz. Ein bisschen Selbstironie darf sein. Dann erschrickt sie kurz: “Streichen Sie das Wort obsessiv. Die Leute folgern daraus sofort, ich sei ein zwanghafter Charakter.” Wahrscheinlich wäre der Schluss gar nicht so falsch, Ganz abgelegt hat Mariah Carey die Angst des kleinen Mädchens vor der großen, unberechenbaren Welt nicht. Noch muss sie beweisen, wie tapfer sie ist, wie leistungsfähig.
Obwohl sie sich ja eigentlich schon verdammt erwachsen fühlt: Dieses neunte Album, eine Mixtur aus wunderbar rauchigem Soul und glatt geschmirgelten Rap-Schleichern, ist die Platte, für deren Entstehung sie komplett allein verantwortlich ist. Früher pfuschten diverse Sound-Schiedsrichter, Management und ihr Ex-Mann, der Sony-Chef Tommy Mottola, dem Soul-Täubchen ins klingende Naschwerk. Die Rebellin, die es gewohnt war, 24 Stunden am Tag HipHop zu hören, stimmte zähneknirschend dem lukrativen Schmusekurs zu.
Die Ehe, in die sie mit 23 erfolgstrunken stolperte, erwies sich für den naiven Twen als hochexplosives Minenfeld. Die Branche kolportierte, der 20 Jahre ältere Mottola hätte seine junge Frau wie ein einsames Rassepferd gehalten: Stets durfte sie nur im perfekt geschnittenen Armani- oder Calvin-Klein-Dress auftreten; den knappen Lolita-Look der Long-Island-Göre verbot er strikt. Tabu waren Schauspielunter-richt und Partys. Zwei Angestellte verfolgten den Jungspund auf Schritt und Tritt. Als Mariah Carey sich vor zwei Jahren von ihrem Mann trennte, fühlte sie sich wie ein Schmetterling, der zum ersten Mal fliegen durfte. “Seit ich meine erste Platte veröffentlicht habe, habe ich nicht viele Momente genossen. Ich habe mir selbst bei meinem Leben nur zugeschaut, ich habe es nicht gelebt.”
Jetzt, zwei Jahre später, kann sie ihr Leben spüren: verliebt in den Latino-Star Luis Miguel, gestärkt durch etliche Schauspielstunden und die Aussicht auf die Hauptrolle in dem Musikfilm All That Glitters, zurück in ihren knallengen Fummeln. Zur Hölle mit dem People Magazine, das die Minikleid-Fetischistin auf die &kdquo;Worst Dressed”-Liste setzte: “Es gibt für niemanden einen Grund, solche engen Kleider zu tragen.” Aber, so Mariah, die Leute hätten einfach einen perversen Blick. “Ich bin da einfach nicht so erfahren. Ich habe da einen sehr unschuldigen Ansatz. Wenn ich mich anziehe, ist das immer noch so, als wäre ich ein kleines Mädchen, das Verkleiden spielt.”
Die kleine Handtasche, die sie früher immer fest an sich gepresst hielt, liegt in einer Ecke. Vor einiger Zeit wäre das undenkbar gewesen. “Ich hatte immer diesen Fluchtgedanken. Ich dachte, wenn ich Ärger bekomme, dann packe ich nur meine Tasche und haue mit meinem Kram ab.“ Dieses “Wohn-Mobil für ihre Seele,” wie der Rolling Stone das kleine Accessoire taufte, ist nicht mehr lebenswichtig. “Ich weiß jetzt, dass ich ein sehr starker Mensch bin,” raunt sie mit ihrer Honigstimme. Dann senkt sie charmant die matten Lider und seufzt: “Aber ich muss noch eine Menge lernen.”