“Ich Höre Nur Auf Mich Selbst”

Auf 80 Millionen Platten hat die einstige Kellnerin immer wieder das große Liebesglück beschworen — und ist in ihrer Ehe mit einem der mächtigsten US-Musikmanager immer unglücklicher geworden. Seit der Trennung versucht sie, eigene Töne zu finden.

Stern (DE) November 20, 1997. Text by Jochen Siemens.

Sie kommt nicht einfach durch die Tur. Mariah Carey taumelt herein wie eine verwirrte Elfe, die Hande suchen nach Halt: “Ich bin so müde,” stöhnt sie. Hinter ihr klebt ein Mann, der am Haar herumzuplt, gehen ihr eine Frau mit Pinsel un Puder. Es ist sieben Uhr abends, Mariah verdreht die Augen un sinkt auf ein Sofa. Frisurmann und Make-up-Madchen sinken mit.

Alle im Zimmer sind nervös, Manager, Obermanager und Untermanager ihrer Plattenfirma Sony rennen umher, und wenn man Mariah fragt, ob man jetzt reden könne, ist es eine Sekunde still. “Ja. Sie werden sie gleich sprechen können,” laßt sie eines ihrer Mädchen antworten. Die anderen wischen sich Schweiß von der Stirn un machen “pffft.” Einer der Leipziger Hotelangestellten flüstert, das “Frau Carey nicht so gut gelaunt” sei. Ein paar Räume weiter hört man sächsische Handwerker am einem Parkettboden arbeiten, der über Nacht bestellt wurde, weil “Frau Carey” für ihre Show proben wolle, mit der sie gerade Reklame für ihre neue CD Butterfly macht.

Mariah Carey ist 27, un man kann sie mit Recht eine verwöhnte Zicke nennen. Ein Popstar, der mit Stimme un Softballaden 80 Millionen Platten verkauft hat: ein Aschenputtel mit einer märchenhaften Geschichte-Kellnerin und gelegentliche Backgroundsängerin aus Long Island wird vom Prinzen, dem Sony-Music-Chef Tommy Mottola. 1988 entdeckt und groß gemacht. Eine Beziehung, gebaut auf den klassischen Pfeilern der Upperclass: Sex und Geld. Mariah, damals 18, machte Tommy, damals an die 40, wieder jung un sicherte mit ihren Chart-Erfolgen seinen Präsidentesessel. Er, millionenschwer, stopfte Dollars in ihre Karriere un ihren Kleiderschrank. Die Hochzeit im Juni 1993 “was eher eine Krönung,” wie Gäste erzählten. Mariah studierte tagelang das Video der Diana-Hochzeit 1981, ihre Kleid wurde für 25,000 Dollar geschneidert, und natürlich hießen die Gäste Bruce Springsteen, Barbra Streisand und Robert De Niro.

Mit dem Jawort begann für Mariah ein Traum, der zum Trauma wurde. Auch wenn sie es nach der Hochzeit mit einem der mächtigsten Männer des Musikgeschäfts, einem Waffennarr, der im Keller seines Hauses manchmal verträumt Flinten poliert, noch für Liebe gehalten hat, daß Tommy ihnen beiden in Bedford bei New York nicht nur einen Zehn-Millionen-Dollar-Palast mit zwei Pools, Tennisplatz und Tonstudio baute, sondern für sie auch zwei Leibwächter einstellte, die ihr bis vor die Toilette folgten. Sie hat ihm geglaubt, wenn er ihr erklärte, welche Kleider sie anzuziehen habe, hochgeschlossen damenhaft und sexlos. Und sie merkte nicht, daB Tommy vom zweiten Telefon in Bedford jedes ihrer privaten Gespräche mithörte. Tommy kontrollierte ihre Post. Tommy verbat sich einen Schauspiellehrer im Haus und strich gutaussehende, nichtschwule Tänzer aus den Besetzungslisten ihrer Videos.

Niemand hatte ihr gesagt, daß Thomas D. Mottola jr. im Musikgeschäft längst den zweifelhaften Namen “Don Tommy” trug: aus der Italo-Gemeinde der Bronx stammend, hat er sich mit allerlei undurchsichtigen Methoden nach oben gearbeitet. Der Herr über Stars wie Michael Jackson, Bruce Springsteen oder Gloria Estefan ist sich seiner Macht so sicher, daß er manchmal angeblich herumflucht, wenn das japanische Mutterhaus nicht aufhöre, an seiner Politik herumzukritteln, werde er ihnen Sony Music wegnehmen. Und Mariah war für ihn nicht Liebe, sondern ein Projekt, das seiner Firma die oberste Etage der Charts sicherte.

Das erfuhr Mariah nur allmählich. “Nein,” sagt sie, “Freunde haben mich nicht gewarnt. Ich bin ja ein paar Jahre nicht aus dem Haus gekommen.” Nur zuweilen, wenn sie sich wieder in eines der Zimmer einschloß, brüllend-laute Rap-Musik hörte und Tommy vor der Tür herumschimpfte, ging ihr durch den Kopf: “Er hängt zu sehr an meinem Arsch.” Doch sie ließ sich keine Zeit zum Nachdenken. Wie am Fließband wurden Alben produziert, weißer Mittelstands-Soul mit kalkulierten Emotionen. Mariah wurde eine Art Maria Callas für Baumärkte und Autohäuser, wo Songs wie “Without You” und “Anytime You Need A Friend” die Kauflust wekken sollten. Obwohl ihre Stimme sechs Oktaven schafft, blieb das musikalische Vermögen auf Bodenhöhe. Das US-Magazin Times attestierte “Nutra-Sweet soul,” doch das Marketing-Konzept der blonden Tochter einer irischen Mutter und eines schwarzen Venezuelaners gedieh. “Jede Firma wäre vor Begeisterung durchgedreht, sie zu haben,” so Musikmogul David Geffen.

Mariah windet sich auf der Couch und zerrt am schwarzen, zu kurzen Lederrock. Im weißen Top ist ihr Busen so eingezwängt, daß man Druck-streifen sieht, und ihre dünnen, beinahe aschblonden Haare wollen nicht in Form fallen. Seit sie nicht mehr hochgeschlossen tragen muß, zeigt Sie demonstrativ_viel Haut. Das Leben hat in ihrem runden Gesicht noch keine Konturen hinterlassen, obwohl es gerade in jüngster Zeit reichlich Höhen und Tiefen gab. Tiefen wie den Tag in diesem Mai, als sie Tommy Mottola verließ: Höhen wie diese Wochen, in denen ihre neue CD in den Charts oben steht. “Es ist mein wichtigstes Album,” sagt sie, “weil es so persönlich ist. Es ist ein Stück Biographie.” Ob Butterfly deshalb ihre bislang schlechteste Platte geworden ist?

Hinter den goldenen Gittern von Bedford kam Mariah jedenfalls auf die Idee, auch musikalisch auf eigenen Füßen stehen zu wollen. Heimlich schrieb sie nachts eigene Songs, Teenie-Texte über Ausbrüche und Selbstwerdung, “aber ich hab' sie immer wieder weggelegt.” Im Herbst 1996 begann sie dann, an Butterfly zusammen mit schwarzen Musikern zu arbeiten — der Soundtrack ihres Ausbruchs.

Ein kindisches Unternehmen mit kindischen Bildern im Video zur Single “Honey” etwa läßt sich die angekettete Carey von Agenten aus einem Haus befreien und schwimmt im Bikini in die Freiheit. “Alles in dem Video soll heißen: Leck mich am Arsch, Tommy,” sagt ihr Ex-Produzent Walter Afanasieff. “Nein,” versichert Mariah, “es sieht zwar so aus, aber das ist überinterpretiert.” Dann zwinkert sie mit den Augen. “Das ist mein wichtigstes Album,” wiederholt sie, “weil ich endlich etwas von mir hergebe. Ich komme aus New York und hatte eine beschissene Kindheit, mein Vater verließ uns, als ich drei war. Ich bin mit Rap-Musik groß geworden, das sind meine Wurzeln.”

Daß sie Butterfly mit Rap-Meistern wie Puffy Combs, Mase und Da Brat produzierte, löste bei Sony Schocks aus, immerhin ist der Konzern noch für vier Alben an Mariah gebunden, die sich nun als Gangsta-Girl mit “Fuck you”-Lyric vorstellte. “Die waren alle sehr nervös, weil ich die Erfolgsformel änderte. Ob ich völlig verrückt sei, haben sie gefragt.”

Die Aufregung legte sich schnell, weil das Album immer noch dem Erfolgsrezept der weichen Balladen folgt und nur einige Songs zaghafte Ausflüge in wattigen Rap wagen — ein unentschlossenes Werk und ein mißlungener Versuch, Janet Jackson zu sein. Dennoch platzt Sonys Ex-First-Lady vor Selbstbewußtsein: “Musikalisch kann mir keiner was sagen, da höre ich nur auf mich selbst. Ich kann's alleine.” Mottola wiederum gab im Konzern nicht ohne Hintersinn die Parole aus: “Laßt ihr alle Freiheiten, sie weiß, was sie tut.”

Szenen wie nach der Grammy-Verleihung 1996, als Mariah keine Auszeichnung bekam und sie Tommy danach in einer Hotellobby anbrüllte, ob er eigentlich nicht mächtig genug sei, ihr einen Grammy zu verschaffen, werden dem Mann nun wohl erspart bleiben. Die Trennung, so ließen beide im Mai verlauten, sei im finanziellen Einvernehmen geschehen, die Scheidung ist im nächsten Jahr zu erwarten. “Wir sprechen sehr freundlich miteinander,” sagt Mariah. Erst neulich haben sie sich auf einer ihrer Jachten getroffen. Tommy kochte Nudeln.

Nach einer Stunde sinkt Mariah in Leipzig wieder dahin. Sie liegt auf der Couch und wimmert, sie habe Hunger. Worauf? “Nudeln,” flüstert sie, “aber nur so gekocht.” Wieder läuft ein Haufen Manager ins Zimmer, wieder sind alle nervös. Mariah ist eben immer noch die Ex-Frau vom Chef.