Aschenputtel im Showgeschäft

Ihre Geschichte liest sich wie ein Märchen. Mariah Carey begann als Serviererin und wurde mit ihrer erotischen Soul-Stimme zum Shooting-Star. Mit 26 Jahren ist sie nun ganz oben, verkauft mehr Platten als Janet Jackson oder Whitney Houston. Nach ihrem ersten Konzertauftritt in. Deutschland gewährte die neue Pop-Queen MAX eine exklusive Audienz.

Max Magazine
Magazine Scans
Max Magazine by Daniela Federici
Photos by Daniela Federici
Max (DE) August 1996. Text by Jonica Jahr.

Frankfurt, Arabella Hotel, 6. Stock, Suite 640: Müde schlurft eine junge Frau im grünkarierten, tief dekolletierten Kleid durch das abgedunkelte Hotelzimmer. Sie bleibt einen Augenblick am Fenster stehen und schaut auf die Skyline der deutschen Finanzmetropole. Energisch zieht sie dann die Vorhänge bis auf einen kleinen Spalt zu und läßt sich erschöpft auf das Sofa fallen.

Das ist also Mariah Carey, 26, die erfolgreichste Pop-Sängerin und heißeste Sony-Aktie, die dank MTV täglich in knappen Hot pants und sexy Hemdchen direkt in unsere Wohnzimmer I hüpft und uns mit ihren Nutrasweet-Liedern verzaubert. “Sei mir nicht böse, wenn ich es mir etwas bequem mache, aber ich bin todmüde", haucht sie mit schmuseweicher Stimme.

Mariah streckt ihre langen Beine, die in hochhackigen, braunen Sandaletten stecken, auf dem gläsernen Couchtisch aus und räuspert sich. “Ich verstehe nicht, warum diese Interviews immer am Tag nach einem Konzert stattfinden, wenn ich eigentlich meine Stimme schonen muß.” Genüßlich zieht sie mit dem Strohhalm einen Schluck Eistee aus einer Plastikflasche. “Noch helfen Tee, Honig und Zitrone. Aber mal ehrlich. Das Schlimmste wäre der Verlust meiner Stimme. Sie ist meine Karriere, mein ganzes Kapital. Durch sie habe ich alles erreicht, mein Leben verändert,” sagt sie lächelnd, streicht sich ein paar Ponyfransen aus dem perfekt geschminkten Gesicht und schaut mich mit ihren mandelförmigen, lebkuchenbraunen Augen an. Jede Pose sitzt: Mariah gefällt sich ganz offensichtlich in der Rolle der Märchenprinzessin.

So hold war ihr das Glück nicht immer. “Für die, die mich erst kennengelernt haben als ich erfolgreich wurde, mag es so scheinen, als ob ich schon immer ein märchenhaftes Leben geführt hätte,” sagt Mariah. “Aber ganz so einfach ist es nicht. Ich habe auch verdammt harte Zeiten erlebt. Hinter diesem Erfolg steckt mühevollste Arbeit.” Sie holt tief Luft und seufzt: “Mein Kindheit war alles andere als glücklich. Ich war erst drei, als meine Eltern sich trennten. Meine Geschwister und ich sind bei meiner Mutter in Long Island geblieben. Zu meinem Vater habe ich nur sehr unregelmäßig Kontakt. Ich habe ihm vor ein paar Wochen etwas zum Vatertag geschickt, aber bisher keine Antwort bekommen. Nicht nur die Trennung war hart, sondern auch die Erfahrung, kein Geld zu haben. Wir hatten zeitweise nicht einmal eine eigene Wohnung.”

Mariahs Mutter war Opernsängerin und viel unterwegs. Der Babysitter wurde durch das Radio ersetzt, und statt Gute-Nacht-Geschichten hörte das kleine blonde Mädchen die Platten ihrer älteren Geschwister: Mariah liebte Aretha Franklin, Stevie Wonder und Chaka Khan. Mit 16 brach das Nesthäkchen die Schule ab, zog mit einer Freundin in ein winziges Apartment in Chelsea und besuchte eine Gesangsschule. Das nötige Geld verdiente Mariah als Serviererin in einem Restaurant am Central Park in Manhattan: “Ich habe dort jeden Tag bis spät abends gearbeitet und bin danach mit der U-Bahn direkt zum Studio gefahren. Ein Ministudio,” sagt sie und teilt das Hotelzimmer mit der Hand in zwei Räume. “Das war nicht mal so groß wie die Hälfte dieses Raumes. Ich habe dann bis früh morgens gesungen, gesungen, gesungen, Lieder geschrieben, getextet und an den Tapes gearbeitet. Die Musik war immer meine kleine Welt. Eine Welt, die mich stark gemacht hat.”

Der Rest des Märchens dürfte bekannt sein: Vor sechs Jahren bekam Tommy Mottola, Produzent und Plattenboß bei Sony Music Entertainment, auf einer Party Mariahs Demoband in die Hand und hörte es auf dem Nachhauseweg in seiner Limousine an. Mottola war so beeindruckt, daß er sofort umkehrte, um das Wesen mit der Traumstimme kennenzulernen. Doch Mariah war bereits davongehuscht…

Doch der Sony-Prinz und die singende Serviererin fanden noch zusammen: Am 5. Juni 1993 heirateten Tommy und Mariah in New York. Barbra Streisand, Robert De Niro und Bruce Springsteen waren die Trauzeugen.

Daß der Gemahl 20 Jahre älter ist, scheint die Verbindung nicht zu belasten. “Die Menschen um uns herum machen ein Problem daraus,” sagt Mariah betrübt. “Ich gebe zu, daß ich erst lernen mußte, mit ihm und seinen Ansichten umzugehen. Er hat natürlich durch sein Alter oft einen anderen Standpunkt. Vor ihm hatte ich nur drei andere Beziehungen, und ich muß sagen: Tommy und ich sind ein Team, wir gehören zusammen. Seine Ratschläge sind ungeheuer wichtig für mich, und er versucht nicht, mich zu gängeln.”

Mariah legt den Kopf in den Nacken, zieht ihre goldene Halskette aus dem Ausschnitt, wickelt sie um den rechten Zeigefinger und schließt die Augen. “Oh Mann, meine Managerin hat mir ausdrücklich gesagt, daß ich mich nicht hängenlassen soll und nicht zeigen darf, wie müde ich bin, damit es nicht in der Presse steht.”

Okay, kein Wort darüber! Schließlich gibt es viel Interessanteres aus Mariahs Privatleben zu berichten. “Ich lebe jetzt ein bißchen wie unter einer Käseglocke,” erzählt sie. “Ich mußte lernen, Abstand vom gewohnten Leben zu nehmen. Lernen, daß man plötzlich ständig fotografiert wird. Früher reichte mein Geld gerade mal für ein Paar Schuhe, heute wohnen wir in einem wunderschönen Haus, und meine Klamotten werden von Designern maßgeschneidert. Leider kann ich ohne Bodyguards nicht mehr weggehen und shoppen.”

Höchstselbst kümmert sich Mariah nur noch um die Musik. “Die meisten Lieder drücken meine Wünsche und Erfahrungen aus. So auch ‘Hero,’ eines meiner Lieblingslieder. Ich hab' mich ans Klavier gesetzt, überlegt, was ich ausdrücken will, und dann geschrieben. ‘And than a hero comes along…’,” beginnt Mariah zu singen. “Weißt du,” sagt sie, “meine Lieder sollen eine Botschaft rüberbringen. Sie sollen meine Zuhörer fröhlich stimmen, sie ermutigen, wenn sie Probleme haben.”

Und wie auf ein Stichwort legt sich Mariahs hübsche Stirn plötzlich in finstere Falten. “Es gibt ein Thema in meinem Leben, über das ich nur sehr ungern spreche,” sagt sie, holt tief Luft, und ihr Blick wandert unruhig durchs Zimmer. Mariah meint ihre Schwester Alison, 36, die jahrelang als Prostituierte arbeitete, drogenabhängig wurde und die seit dem vergangenen Jahr an Aids leidet. Mariahs Stimme zittert, sie beginnt zu flüstern: “Die Situation meiner Schwester geht mir schon extrem nahe. Und es ist schrecklich, daß ich ihr nicht helfen kann. Drogen sind etwas Unberechenbares und Abschreckendes. Ich habe schon früh erlebt, wie sehr sich ein Mensch dadurch verändert. Deshalb habe ich auch nie welche genommen. Du siehst, mein Leben gleicht nicht immer dem einer Prinzessin.”

Sie steht auf und zupft ihr Kleid zurecht. Die Interview-Zeit ist abgelaufen. Mariah guckt erleichtert zu mir: “Ich muß mich beeilen, in einer Stunde geht mein Flieger nach Rotterdam. Drück mir die Daumen. Ich bin vor Konzerten immer wahnsinnig aufgeregt, weil ich Angst habe, daß meine Stimme versagt oder ich über meinen Kleidersaum stolpere,” sagt sie und verschwindet aus dem Zimmer.

Mariah, carry on!